Textatelier
BLOG vom: 12.03.2010

„Respekt für alle“ und „Darf ich eine Bratwurst essen?“

Autorin: Lislott Pfaff, Schriftstellerin, Liestal BL/CH
 
Sehr geehrte Redaktion des „Kirchenboten“,
 
ich danke Ihnen für den in der Ausgabe vom März 2010 erschienenen Artikel „Wo bleiben die Rechte?“ zugunsten der Tiere, mit dessen Inhalt ich grösstenteils einverstanden bin, und erlaube mir, besonders auf die Kolumnen von Annette Meyer und Kurt Zaugg einzugehen. Dabei möchte ich vorausschicken, dass ich mich seit etwa 30 Jahren Jahren vegetarisch ernähre und nicht nur kein Fleisch, sondern auch keinen Fisch esse – aus Respekt vor den Tieren, vor allen Tieren. Denn wo liegt das Mass, das ich beispielsweise für das Verzehren von Bratwürsten noch als verantwortbar halten darf? Bei einer, zwei oder drei Würsten pro Tag? Und weiss ich denn, wie das Leben und Sterben der Tiere aussah, welche die Bratwürste oder irgendein anderes Produkt dieser praktischen Fleischproduktionsmaschinen geliefert haben? Wer kennt schon die blutige Realität eines Schlachthauses, wer hat schon die Panik der Schlachttiere gesehen, wenn sie über die Rampe ihres Transportfahrzeugs zur Stätte ihrer grausamen Hinrichtung gejagt und gestossen werden? Überdies: Wenn ich auch nur eine einzige Bratwurst verzehre, so landet sie jedenfalls erst in der Pfanne, nachdem dafür ein Lebewesen getötet wurde. Oder um es mit den Worten des irischen Dramatikers, Politikers und Satirikers Bernard Shaw kurz und bündig auszudrücken: „Ich will keine Leichen auf dem Teller.“
 
Der Theologe und Buchautor Eugen Drewermann sagt mit Recht: „Vom Neuen Testament bis in die Neuzeit macht sich lächerlich, wer im christlichen Abendland sich des Leids der Tiere annimmt.“ So zweifle ich auch sehr daran, dass in der Bibel ein „enges Verhältnis zwischen Tieren und Menschen“ besteht, wie der Theologe Kurt Zaugg schreibt. Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera schrieb in seinem Bestseller „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“: „Am Anfang der Genesis steht geschrieben, dass Gott den Menschen geschaffen hat, damit er über Gefieder, Fische und Getier herrsche. Die Genesis ist allerdings von einem Menschen geschrieben und nicht von einem Pferd oder Schwein. Es gibt keine Gewissheit, dass Gott dem Menschen die Herrschaft über die anderen Lebewesen tatsächlich anvertraut hat. Viel wahrscheinlicher ist, dass  der Mensch sich Gott ausgedacht hat, um die Herrschaft, die er an sich gerissen hat über Kuh und Schwein und Pferd, zu sanktionieren. Jawohl, das Recht, einen Hirsch oder eine Kuh zu töten, ist das einzige, worin die ganze Menschheit einhellig übereinstimmt, sogar während der blutigsten Kriege.“
 
Kurt Zaugg meint, die Tiere sollten nicht die gleichen Rechte wie die Menschen haben. Ich empfinde diese Einstellung als überheblich, und ich finde, jedes Tier – und sei es das kleinste Insekt – soll ebenso wie der Mensch das Recht haben, seiner Art gemäss zu leben und zu sterben. Woher nimmt der Mensch das Recht, über das Leben und Sterben der Tiere zu bestimmen? Weshalb ist Menschenmord eine Sünde, Tiermord aber ein natürliches Menschenrecht? Wie der oben erwähnte Theologe Drewermann ausführt, liegt es in der Konsequenz der christlichen Anthropozentrik, das Quantum an Leid, das die Natur der menschlichen Gattung auferlegt hat, nach Möglichkeit auf die Mitgeschöpfe, die Tiere, zu verschieben. Ich denke dabei auch an die Forschung an Tieren, die – wie ich als ehemalige Übersetzerin in der Pharmaindustrie nur zu gut weiss – an Grausamkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Der Schriftsteller Hans Henny Jahnn (Kleist-Preis 1920) beklagte sich: „Unsere Religion, die christliche, hat fast nichts getan, um das Tier als Geschöpf zu achten…“
 
Wenn Annette Meyer in ihrer Kolumne die Einsamkeit des Menschen nach dem Verlust eines geliebten Mitmenschen mit der Einsamkeit des einzeln gehaltenen Haustiers vergleicht, so schreibt sie an der Realität vorbei. Denn der Mensch – auch die verwitwete Nachbarin – hat die Freiheit, aus der Einsamkeit auszubrechen, eine Freundin, einen Freund zu treffen oder ein Haustier, und sei es ein Meerschweinchen, als Gesellschafter bei sich aufzunehmen. Das Tier hingegen hat keine Wahl: Wenn der Mensch es so will, muss es einsam bleiben. Andererseits gibt es sehr viele alleinstehende Menschen, die glücklich sind, mit einem tierischen Kameraden zusammenleben zu können, weil sie mit den Menschen aus verschiedenen Gründen nicht oder nicht mehr zurechtkommen. Der Mensch profitiert allemal von diesem Zusammenleben, und das Schlucken so mancher Psychopille lässt sich damit vermeiden.
 
Darf ich zum Schluss nochmals Milan Kundera zu Wort kommen lassen: „Die wahre moralische Prüfung der Menschheit, die elementarste Prüfung (die so tief im Innern verankert ist, dass sie sich unserem Blick entzieht), äussert sich in der Beziehung der Menschen zu denen, die ihnen ausgeliefert sind: zu den Tieren. Und gerade hier ist es zum grundlegenden Versagen des Menschen gekommen, zu einem so grundlegenden Versagen, dass sich alle anderen aus ihm ableiten lassen."
 
Mit freundlichen Grüssen
Lislott Pfaff
 
PS: Der offene Brief bezieht sich auf einen im „Kirchenboten der Evangelisch-reformierten Kirchen Baselland, Basel-Stadt, Luzern, Obwalden, Schaffhausen, Schwyz, Solothurn, Uri“ erschienenen Artikel.
 
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